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Anpassungen der Hochgebirgspflanzen (2):
Die
Spinnweben-Hauswurz
(
Sempervivum arachnoideum
§;
S. 571; DW) hat fleischige Laubblätter.
Diese Hauswurz-Art findet man im Allgäu ausschließlich auf kalkarmen Böden, beispielsweise auf der
Höfats. Die kleinen Blattrosetten weisen zwischen den Blattspitzen die namengebenden „Spinnweben-Haare” auf
(
erste Reihe Mitte
). Gerne werden Hybriden dieser Art in Steingärten gepflanzt. Der Gattungsname
Sempervivum
kommt aus dem Lateinischen, bedeutet „immer lebend“ und bezieht sich auf die immergrünen Laubblätter sowie
den ausdauernden Charakter der Pflanzen.
Das
Stängellose Leimkraut
(
Silene acaulis
subsp.
longiscapa;
erste Reihe rechts
;
S. 571) bildet
selbst in hohen und schattigen Lagen hochalpiner Matten dichte Polster. Die Pflanze ist eine der zehn im
Allgäu vorkommenden
Silene
-Arten. Polster wie die des Stängellosen Leimkrautes oder des
Schweizer Manns-
schilds
(
Androsace helvetica
§; DW;
zweite Reihe links
) dienen neben der Isolation gegen extreme Temperaturen
auch als Wasserspeicher, denn abgestorbenes Pflanzenmaterial verbleibt im Polster, wird zu Humus und saugt sich
bei Regen wie ein Schwamm voll mit Wasser. Außerdem bietet das Polster Schutz und Lebensraum für Kleintiere
wie Insekten. Bestimmte Wuchsformen wie Polsterwuchs können unabhängig voneinander bei nicht näher mitein-
ander verwandten Arten als Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen wie Wind entstehen und werden als
Konvergenz
bezeichnet. Der Schweizer Mannsschild kommt einzeln in sonnen- und windexponierten Lagen auf
kalkhaltigem Fels von Gipfeln, Wänden und Spalten vor.
Der
Gletscher-Hahnenfuß
(
Ranunculus glacialis
; DW) verfügt über ein „Frostschutzmittel“ in den Laub-
blättern. Die seltene Art kommt im Allgäu nur an drei Fundorten, auf Schneck, Linkerskopf und Mädelega-
bel, vor und ist entweder weiß- oder rotblühend. Bis zur ersten Blüte vergehen mehrere Jahre.
F
elsspaltengesellschaften
Selbst auf dem steilsten und scheinbar nackten Fels
findet man bei genauerem Hinsehen eine vielfälti-
ge Vegetation, die an die extremen Bedingungen wie
Trockenheit und starke Temperaturschwankungen an-
gepasst ist. In Felsspalten und ‑vertiefungen, in denen
sich Humus ansammelt, gedeihen spezialisierte klein-
wüchsige, trockenliebende (
xerophile
) Pflanzen. Einen
Vorteil hat das karge Leben auf dem Fels allerdings
auch, denn wegen fehlender Schneebedeckung ist die
Vegetationsperiode auf der Sonnenseite länger als bei
anderen Pflanzengesellschaften. Bereits im Frühling
wird der Fels auf über 30° C erwärmt und die Wärme für
die kalten Nächte gespeichert.
Endolithische
Flechten-
und Algenarten leben sogar einige Millimeter unter der
Felsoberfläche und treten zutage, wenn man den Fels
mit einem Hammer aufklopft. In Felsspalten, wo sich
zum Teil sehr nährstoffreiche Feinerde und Humus an-
sammeln, leben Asseln, Ameisen und andere Insekten.
Auf kalkhaltigem, basischem Substrat gedeihen Aurikel,
Schweizer Mannsschild, Stängel-Fingerkraut (
Potentilla
caulescens
), Felsenblümchen, Kugelschötchen (
Kernera
saxatilis
) und andere Arten der
Kalk-Felsspaltenge-
sellschaft
. Auf silikathaltigem, sauerem Gestein (
Sili-
kat-Felsspaltengesellschaft
) findet man Streifenfarn
und Hauswurz.
A
lpine
S
chuttfluren
Das Leben auf Felsschutt erfordert besondere Anpas-
sungen der Pflanzen an die schwierigen Lebensbedin-
gungen. Schutt, der sich mehr oder weniger langsam
oder zuweilen als Gerölllawine talabwärts bewegt, ver-
schüttet und beschädigt ober- und unterirdische Pflan-
zenteile, so dass das Wachstum über ein Anfangsstadi-
um hinaus besonders erschwert wird. An der trockenen
und humusarmen Oberfläche sind die Bedingungen
eher lebensfeindlich, aber unter dem Schutt sind oft
reichlich Feinerde und Feuchtigkeit vorhanden, die gut
durch helles reflektierendes Gestein geschützt sind.
Spezialisierte Arten erobern Felsschutt als Erstbesiedler.
Solche
Pionierpflanzen
leben oft vergesellschaftet mit
Wurzelknöllchenbakterien
, die aus Luftstickstoff Am-
moniak herstellen und damit die Pflanze unabhängig
von Bodenstickstoff machen. Pionierpflanzen sind vie-
le Schmetterlingsblütler wie Klee, Wicken, Tragant und
Ginster, die auf kargen, humus- und stickstoffarmen Bö-
den gedeihen können.
Daneben haben Pflanzen eine Reihe von Anpassungen
gegen die mechanischen Einwirkungen des Schutts
entwickelt.
Schuttwanderer
liegen dem Schutt auf und
wandern mit dem Geröll.
Schuttstauer
verfügen über
lange, senkrecht und parallel zur Oberfläche verlaufen-
de Wurzeln zum „Anstauen“ und stabilisieren somit den
Schutt, wie beispielsweise der tiefwurzelnde Alpen-
Mohn.
Schuttdecker
wie die Silberwurz
bilden einen
dichten Teppich und halten dadurch den Schutt fest.
Schließlich haben
Schuttstrecker
ein gut ausgebildetes
Wurzelsystem mit einem mächtigen Vorrat an Reserve-
stoffen, so dass nach eventuellem Abreißen der ober-
irdischen Teile diese nachwachsen können. Typische
Schuttstrecker mit langen, biegsamen Kriechtrieben sind
Augenwurz, Säuerling, Pestwurz-Arten
und Huflattich,
die auf
Huflattich-Pestwurzfluren
vorkommen.
Aus den abgestorbenen Blättern von Erstbesiedlern wie
Silberwurz oder Stumpfblättriger Weide bildet sich nach
und nach Humus. So können sich im weiteren Verlauf
weitere Arten ansiedeln und die Artenvielfalt nimmt
zu. Es entsteht ein geschlossener Rasen (siehe unten),
der aus Gräsern und Wildblumen besteht. Auf karbo-
nathaltigen Schuttfluren erscheinen beispielsweise
bald Alpendost, Berg-Baldrian, Schild-Ampfer, Schwarze
Schafgarbe, Kleiner Strahlensame (
Silene pusilla
), Berg-
Gamander, Blattloser Steinbrech, Rundblättriges Tä-
schelkraut (
Thlaspi rotundifolium
), Gämskresse, Alpen-
Gänsekresse, Gesporntes Veilchen (
Viola calcarata
§)
und Gelbes Veilchen. Für kalkärmere Flysch-Schuttfluren
typisch sind Kriechende Nelkenwurz (
Geum reptans
),
Gletscher-Hahnenfuß und Moos-Steinbrech (
Saxifraga
bryoides
§).
Den zeitlichen, graduellen Übergang von der ursprüng-
lich artenarmen
Pioniergesellschaft
zu einer arten-
reicheren Gesellschaft nennt man Besiedlungsfolge
(
Sukzession
). Das Endstadium ist eine stabile
Klimaxge-
sellschaft
, die sich in ihrer Artzusammensetzung nicht
mehr ändert, solange das Gefüge ungestört ist und die
Umweltbedingungen konstant bleiben. Jede Art ist her-
vorragend an die Bedingungen ihrer jeweiligen „Nische“
angepasst. Das heißt aber nicht, dass solche Rasengesell-
schaften ewigen Bestand hätten. Regenwürmer fehlen
in alpinen Lagen, stattdessen übernehmen Schermäuse
wie die Schneemaus die Aufgabe, den Boden zu durch-
pflügen und zu durchlüften. Schermäuse werfen große
Mengen an Humus auf, der unter Umständen vomWind
verblasen wird. So verschwinden mancherorts die Hu-
musauflage und dann allmählich auch der Bewuchs, bis
die „nackte“ Fels- oder Schuttfläche wieder zutage tritt
und der Kreislauf von neuem mit der Besiedlung durch
Pionierpflanzen beginnt.