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Tollkirsche
Alle Teile der Tollkirsche (
Atropa belladonna
;
zweite Reihe rechts
und
dritte Reihe links
), hauptsächlich aber
die Laubblätter, enthalten die
Alkaloide Atropin
sowie
Scopolamin
. Bereits der Verzehr einiger der süßlich-fade
schmeckenden Beeren oder eines Blattes kann bei Menschen schwere Vergiftungserscheinungen hervorrufen.
Bestimmte Vogel-, Nagerarten und Kaninchen hingegen können die Früchte fressen, da sie über das Enzym
Atropinase zum raschen Abbau der Alkaloide verfügen. Atropin wirkt parasympatholytisch, indem es mit dem
Neurotransmitter Acetylcholin um die Bindungsstelle am M-Rezeptor konkurriert, diesen reversibel blockiert,
aber nicht zur Erregung der Effektorzelle führt. Eine Vergiftung mit der Tollkirsche äußert sich durch Rötung des
Gesichtes, Trockenheit der Schleimhäute, Pulsbeschleunigung und Pupillenerweiterung. Höhere Dosen bewir-
ken eine
Intoxikation
(Rauschzustand) mit Halluzinationen und anderen psychotropen Effekten, Unruhe und
Tobsuchtsanfällen, bis schließlich Koma und Tod durch Herzstillstand und zentrale Atemlähmung eintreten. Der
Gattungsname bezieht sich auf die griechische Schicksalsgöttin
Atropos
, die „Zerstörerin“, die den Lebensfaden
der Menschen durchtrennt. Der Artname
A. belladonna
trägt der Tatsache Rechnung, dass sich Damen früher
die Pflanzenextrakte in die Augen träufelten, um betörend weite Pupillen zu bekommen. Das Gleiche tut der
Augenarzt, wenn er zur bevorstehenden Netzhautuntersuchung Atropin zum Ausschalten des Pupillenreflexes
verabreicht.
Der
Großblütige Fingerhut
(
D. grandiflora
§;
;
siehe unten
;
S. 569) kommt an Waldrändern und Lich-
tungen vor, aber auch auf Staudenfluren, Bahnanlagen und Böschungen. Der seltene, wenig verbreitete Gelbe
Fingerhut (
D. lutea
§;
S. 569) ist die dritte im Allgäu vorkommende Art.
Die Staubblätter des
Bittersüßen Nachtschattens
(
Solanum dulcamara
;
S. 574) sind zu einem auffäl-
ligen, gelben Kegel verwachsen. Die Pflanze enthält giftige
Alkaloide
, deren Gehalt in grünen Früchten am
höchsten und vernachlässigbar gering in reifen Beeren (
Mitte
) ist. Die weit verbreitete Annahme, dass bereits zehn
der süßen Früchte ausreichen, um den Tod eines Kindes herbeizuführen, steht imWiderspruch zu den Ergebnissen
neuerer toxikologischer Untersuchungen.
Die
Tollkirsche
(
Atropa belladonna
;
siehe unten
;
S. 572) ist für den Menschen sehr giftig, bestimmte
Vogel-, Nagetierarten und Kaninchen werden aber kaum durch die Pflanze beeinträchtigt.
Der
Zwerg-Holunder
oder
Attich
(
Sambucus ebulus
) ist im Gegensatz zu den beiden anderen Holunder-
Arten (
S. 147) eine unverholzte, krautige Pflanze.
Das
Kleine Immergrün
(
Vincaminor
;
S. 574), ein Hundsgift-Gewächs (Apocynaceae), wird als Bodendecker
kultiviert, kann aber auch verwildert in Laub- und Auwäldern sowie an Waldrändern angetroffen werden.
Fingerhut
Der Rote Fingerhut
(
Digitalis purpurea
) und andere
Digitalis
-Arten (
erste Reihe
), die früher zu den Rachen-
blütlern gehörten, werden heute aufgrund molekularbiologischer Befunde den Wegerich-Gewächsen zuge-
ordnet. In den Laubblättern kommen unter anderem
herzaktive Glykoside
wie das Digitoxin vor. Etwa zwei
bis drei Gramm getrocknete Laubblätter, die mit Borretsch- oder Beinwellblättern verwechselt werden können,
enthalten die für einen Erwachsenen tödliche Dosis. Digitoxin hemmt die Na
+
, K
+
-ATPase, wodurch die Kon-
traktionskraft des Herzmuskels gesteigert, die Herzfrequenz gesenkt und die Reizleitung verlangsamt wird. Die
Symptome einer Vergiftung äußern sich im Frühstadium durch Übelkeit und Erbrechen, später stellen sich die
für
Digitoxin
-Vergiftungen typischen Herzrhythmusstörungen, Gelbsehen, Delirium, Halluzinationen, Bewusst-
losigkeit, Krämpfe, Herzflimmern und schließlich Tod ein. Vergiftungen sind jedoch selten, da man wegen des
bitteren Geschmacks der Inhaltsstoffe kaum größere Mengen zu sich nehmen kann und weil nach der Einnahme
normalerweise sofort spontanes Erbrechen einsetzt, so dass die Aufnahme größerer Giftmengen unterbleibt. Die
herzaktiveWirkung des Fingerhutes wurde bereits vor mehreren Jahrhunderten erkannt und die Pflanze seitdem
als Mittel gegen Herzinsuffizienz verwendet.
Pflanzen der Waldgesellschaften (9):
Vom giftigen
Roten Fingerhut
(
Digitalis purpurea
;
siehe unten
;
S. 572;
S. 578) gibt es rot- und weiß-
blühende Formen. Die einseitswendigen Blüten weisen meist nach Süden. Die fleckigen Blütenmale täuschen
Staubbeutel vor und locken dadurch bestäubende Insekten an. Kleineren Insekten ist der Eingang durch senkrechte
Sperrhaare
verwehrt, nur Hummeln und andere kräftigere Insekten können sich durch den Vorhang aus Härchen
zwängen. Nachts und bei Regen suchen Insekten Schutz in der Blütenröhre. Die Art kann oft auf Kahlschlägen auf sau-
ren, humusreichen Böden angetroffen werden. Früher glaubte man, dass Füchse Handschuhe aus Fingerhut trügen,
um sich damit lautlos in Hühnerställe schleichen zu können, wovon der englische Name„foxglove“ für Fingerhut zeugt.