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Schulaufgabe 2: textarbeit
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Neues Märchen vom alten Flaschengeist
Lauter alte Flaschen, weiter nichts in der Kellerecke. Da konnte Sebastian noch so viel rumkramen
und irgendetwas suchen, vergessenes Spielzeug vielleicht, genau wusste er es selbst nicht, aber er
fand nichts Brauchbares. Aus Langeweile zog er die locker aufgesteckten Korken aus den Flaschen;
einer, ein besonders dicker, ging schwer heraus: Sebastian befeuchtete den Korken mit der Zunge
und rieb ihn am Flaschenhals, was er bei Erwachsenen, wenn sie betrunken waren, gesehen hatte
und was ein mark- und beindurchdringendes Quietschen hervorrief. Plötzlich stand jemand vor ihm.
Sebastian erschrak bis in die Kniekehlen, die so weich wie Schokolade auf der Zentralheizung wur-
den. Und weil Sebastian ein etwas schlechtes Gewissen hatte (irgendetwas hatte man ja immer an-
gerichtet), stammelte er unlogisch: „Ich habe nichts getan und will es auch nie wieder tun!”
Der überraschend Aufgetauchte jedoch verneigte sich vor Sebastian und sprach: „Du bist mein Herr
und Meister, und ich werde alle deine Wünsche erfüllen, du brauchst sie nur zu nennen!” Das verblüff-
te Sebastian, und er rief: „Machen Sie doch mal Licht hier, ich kann Sie ja gar nicht richtig sehen!”
Kaum hatte er das gesagt, da flammten ringsum vielfarbige Kristalle auf, funkelten und blinkten,
dass es nur so gleißte und flimmerte. Der Fremde vor ihm war eine graue Gestalt, hatte auch graue
Haare, einen grauen Bart, sogar graue Haut und verbeugte sich erneut, wobei er fortfuhr: „Ich bin ein
Flaschengeist. Du hast sicher schon von meiner Gattung gehört. Jemand hat mich aus Versehen hier
mit meiner Behausung abgestellt, und wenn man mit dem Korken an ihr reibt, komme ich heraus und
führe aus, was man mir aufträgt. Also, mein lieber Sebastian, fang an!” So was vernimmt man na-
türlich gerne, nicht nur als kleiner Junge, auch als Erwachsener wäre man über solche Begegnungen
mehr als froh. Sebastian zweifelte aber noch insgeheim und wollte den Grauen auf die Probe stellen:
Also, dann ich wünsche mir...” Vor lauter Eifer fiel ihm nichts ein. „Ich wünsche mir ein... ein neues
Fahrrad! Fertig!” Kaum war die letzte Silbe verhallt, stand es schon vor ihm und klingelte einladend
von selber. Das machte Sebastian Mut: „Und du schaffst alles?” Der Graue nickte. Da holte Seba-
stian tief Luft und sagte: „Und jetzt ein Auto, das von alleine fährt und überall hin, wohin ich will!”
Und schon saß er in den hellgelben Lederpolstern eines fantastischen Autos, das statt des Lenkrades
ein Mikrophon besaß, auf das der Graue, der neben Sebastian hockte, hinwies, wobei er erklärte:
Du brauchst nur das Ziel auszusprechen!” „Nach Amerika und durch den Urwald!”, rief Sebastian.
Ehe man sich versah, rollte der Wagen leise und sanft zwischen Riesenbäumen hindurch, von denen
nicht nur Lianen herabhingen, sondern auch bedrohlich sich windende Schlangen; Affen schaukelten
an Ästen, Papageien flatterten vor der Windschutzscheibe und kreischten, doch davon drang in den
Wagen kein Laut. Sebastian war begeistert: „Ich will eine Burg mit Rittern ganz für mich allein. Und
eine Schokoladenfabrik, die nur für mich Schokolade macht. Und eine neue elektrische Eisenbahn...”
Der Wagen schwenkte ab und fuhr über eine Zugbrücke in den Burghof, wo gepanzerte Ritter stan-
den, Standarten schwenkten und „Hurra, Sebastian!” brüllten, als Sebastian ausstieg. Ein Ritter
in versilberter Rüstung trat vor ihn hin, zeigte mit gezücktem Schwert auf einen Lastwagen in der
Hofecke und brummte: „Die erste Lieferung ist soeben eingetroffen, gnädiger Herr!”
Auf dem Lastwagen las man in leuchtender Schrift:
Sebastians Schokolade ist die Beste!
und zwei
Ritter waren dabei, kistenweise die Tafeln „Mokka Nuss”, „Sahne Erdbeer” und „Milch Marzipan” in
den hohen Turm zu tragen. Der Silberritter aber sagte: „Im Wappensaal ist die neue Eisenbahn auf-
gebaut. Es wurden sechshundertdreißig Meter Schienen verlegt für zwanzig Eilzüge und vierzehn
Güterzüge. Bitte, mir zu folgen!” Er legte die Hand grüßend an den Helm und schritt vor Sebastian
her. „So lasse ich mir das Leben gefallen!”, dachte Sebastian. „Unter solchen Umständen kann man
ganz gut auf seine Eltern verzichten. Auch auf seine Freunde. Wenn man welche benötigt, lässt man
sie sich einfach vom Flaschengeist besorgen!” Im Wappensaal fraß Sebastian Schokolade, bis ihm
schlecht wurde, und spielte mit der Eisenbahn, bis es ihn langweilte. „Was soll ich jetzt machen?”,
fragte er den Grauen, der sich schweigend in seiner Nähe aufhielt und der nun mit den Achseln zuckte:
Das musst du selber wissen. Das Wünschen kann ich dir nicht abnehmen!” Aber Sebastian fiel nichts
mehr ein. „Ich will mich ausruhen...” Der Graue reichte ihm die fast undurchsichtige Flasche aus
dunkelgrauem Glas mit dem dicken Korken und sagte: „Wenn du mich wieder brauchst, weißt du
ja, wie du mich rufen kannst!”, und war wie ein Luftzug in der Flasche verschwunden, die Sebastian
anschließend verkorkte. Durch ein Spalier von Pagen und Mägden schritt er zu seinem Schlafzimmer,
stellte die Flasche auf den Nachttisch und sank auf die weiche Steppdecke, auf welcher der Name
Sebastian
mit Goldfäden eingestickt war.
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