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Jahrgangsstufentest
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Ganz schön pfiffig
Es gibt etwas, das Pedro besser kann als ungefähr 99,9 Prozent der Kinder auf der ganzen
Welt: pfeifen. Dabei pfeift der Zwölfjährige aus dem Südwesten Mexikos keine Lieder.
Er pfeift auch nicht auf der Flöte, auch keine Fußballspiele. Wenn er pfeift, dann meist aus
einem einzigen Grund: Er führt ein Gespräch. Wie das geht, zeigt Pedro vor seinem Haus in
den Bergen.
Mit den Fingern zieht er seine Unterlippe nach unten und verdreht sie leicht. Dann holt er
tief Luft und legt los: Drei hohe kurze Pfiffe, ein mittlerer langer Ton, ein Schlenker nach
unten, zwei Triller ... Was klingt wie der Gesang zweier Kanarienvögel, lässt sich ganz genau
in Worte übersetzen. Eine Kostprobe aus ihrem Gespräch: „Was machst du gerade?”, fragt
der Vater. „Nichts Besonderes”, antwortet Pedro. „Wann wollen wir in die Stadt gehen?”
Antwort: „Am liebsten gleich.” Solche Unterhaltungen zwischen den beiden sind alltäglich.
Doch etwas ist heute anders. Vater und Sohn werden belauscht - und zwar von einem
Wissenschaftler.
Der französische Sprachforscher Julien Meyer nimmt jeden Ton mit einem Mikrofon auf.
Er ist extra nach Mexiko gekommen, um sich Pedros Pfeifkünste und die seiner Eltern und
Bekannten anzuhören. In dem kleinen Ort, in dem Pedro lebt, können sich nämlich fast alle
pfeifend unterhalten. „Vor allem an entlegenen Orten haben Menschen Pfeifsprachen entwi-
ckelt, um sich über weite Entfernungen zu verständigen”, erläutert Meyer. „Insgesamt gibt
es etwa 60 Pfeifsprachen überall auf der Welt verteilt. Bei allen Pfeifsprachen werden die
Laute der gesprochenen Sprache in Pfiffe übertragen, ein ,i' kann z. B. ein kurzer hoher Ton
sein.”
Die lautesten Töne habe ich bislang auf La Gomera gehört”, berichtet der Forscher. Auf der
zerklüfteten Vulkaninsel benutzen die Hirten eine Pfeifsprache, um sich von einer Weide zur
anderen zu verständigen. Sie legen einen Finger auf oder unter die Zunge und bilden mit
der anderen Hand einen Schalltrichter. Bis zu zehn Kilometer weit reichen ihre Botschaften.
Das liegt aber nicht nur an der guten Technik: Auf La Gomera gibt es sehr tiefe Schluchten
mit starkem Echo - das verstärkt die Töne. „Leider sind viele Pfeifsprachen bedroht”, sagt
Meyer, „vor allem, seit es Handys gibt.”
Viele Menschen wollen ihre seltene Tradition nicht einfach sterben lassen. So wurde auf
La Gomera vor einigen Jahren Pfeifen als Pflichtfach an allen Schulen eingeführt. Die Lehrer
sind zum Teil über 70 Jahre alte Hirten. Das klingt lustig, ist aber richtig ernst, denn es gibt
dafür sogar Zeugnisnoten. Natürlich haben auch die Kinder auf La Gomera Handys, doch die
funktionieren nicht überall auf der gebirgigen Insel. Außerdem kostet Pfeifen nichts. Aber
das Beste ist etwas anderes, verrät eine Sechstklässlerin: „Unsere Eltern haben die Pfeif-
sprache selbst nicht mehr gelernt. Also können wir sie als Geheimsprache benutzen.”
Von Pedros Standort klingen die Töne den Berghang hinauf bis zu einem Feld, auf dem
seine Familie Mais anbaut. 300 Meter liegen zwischen Pedros Haus und dem Feld, auf dem
sein Vater arbeitet. Per Pfiff kann sich Pedro mit seinem Vater unterhalten, wenn es zu
weit zum Rufen ist: zwei kurze, tiefe Triller und dann ein schriller, hoher Ton. Diese Art der
Verständigung ist sehr praktisch, denn so müssen die Mitglieder von Pedros Familie nicht
dauernd den Berg hoch- und runterlaufen, um sich abzustimmen.
Quelle: Geolino, September 08
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