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Rhea Silvia wich mit einem Schrei zurück, aber der König beugte schon sein Knie vor ihr, der Priester warf ihr den
Schleier über, ein anderer weihte sie mit heiligem Wasser: Sie war Vestalin. Rhea Silvia war eine Königstochter und
stolz und furchtlos. Aber als sie versuchte, den Schleier vom Haupt zu streifen, raunte ihr ein Priester zu: „Still, Mäd-
chen, wenn dir dein Leben lieb ist!”, und als sie aufblickte, sah sie in die schwarzen drohenden Augen ihres Onkels.
Da ließ sie alles mit sich geschehen, nahm die Ehrungen des Volkes auf sich und ging mit den anderen Vestalinnen,
das heilige Feuer zu hüten. Keiner der jungen Männer, die um sie gefreit hatten, wagte sich zu rühren: Eine zur
Vestalin Erhobene war ihnen entrückt, fern wie ein Sternbild. So hatte Amulius es erreicht, dass Rhea Silvia keine
Nachkommen haben würde, die ihm eines Tages gefährlich werden konnten, und in satter Ruhe gab er sich der Macht
und der Pracht seines Amtes hin. Die Vestalin tat ihren Dienst wie im Traum. Sie mäßigte ihren Schritt zu feierlichem
Gang, sie lernte es, das nie verlöschende Feuer so zu unterhalten, dass es still und gleichmäßig brannte, und sie
brachte die Opfer würdig und hoheitsvoll. Aber sie lebte wie im Traum.
Eines Tages im Frühling, als die Vestalinnen wie immer zur Quelle gingen, wo sie das Wasser für die Opfer holten
-
hier in Alba Longa lag die Quelle weit vor der Stadt am Fuß des Albanerberges - zog ein ungewöhnlich heftiges Ge-
witter auf und überschüttete das Land mit Regen und Blitzen, die wie Peitschenschläge vom Himmel fuhren. In dem
unausgesetzten Donner ging jeder Ruf verloren und die Priesterinnen wurden voneinander getrennt. Rhea Silvia sah
sich erschrocken um und erblickte keine ihrer Gefährtinnen mehr.
Da spürte sie plötzlich scharfen Tiergeruch und blickte in die glühenden Augen eines riesigen Wolfes. Sie erschrak
kaum, sondern ließ sich von dem Tier in eine Höhle drängen. Ruhig blieb sie stehen, stützte sich mit der Hand gegen
die raue Höhlenwand und sah schläfrig in das Dämmern des Waldes hinaus und ihr schien, als sollte sie für alle Zeiten
hier hinter dem Regenvorhang in der Höhle verharren. Den Wolf sah sie nicht mehr und sie war zu schläfrig, um sich
darüber zu wundern. Plötzlich aber zerriss ein Blitz ihre Müdigkeit und nun erschrak sie so, dass sie auf die Knie fiel: Vor
ihr stand, riesenhaft und gleißend vor Gold, ein Gott. „Mars!”, flüsterte sie und zum ersten Mal, seit sie Vestalin war,
wurde sie hellwach. Im Fluge strich alles an ihr vorbei, ihr früheres Leben, das Haus, die Eltern. Ihr Bruder erschien
vor ihrem Blick, ein hellhäutiger Knabe auf wildem Pferd, und neben ihm sah sie, fremd und doch so vertraut, zwei
Knaben, die ihm ähnelten und die Hand in Hand an einem Flussufer entlangliefen. Diese Bilder kamen und gingen in
der Dauer eines einzigen Augenblicks, dann fühlte sie die Augen des Gottes auf sich und sah ihn nicken: „Ja”, sprach
er, „du hast deine Knaben gesehen. Sie werden deine Söhne sein und meine. Komm, sei meine Gemahlin und werde
die Mutter von Göttersöhnen.” Rhea Silvia wurde hier, in der dämmerigen Höhle, die Gemahlin des Kriegsgottes. Wie
lange sie bei ihm weilte, sie wusste es nicht. Die Zeit verging nach anderen Maßen als sonst und eines Tages war sie
allein. Sie verließ die Höhle und wanderte zurück in die Stadt. Spuren von Schnee lagen auf den Wegen und es fror sie
in ihrem dünnen Gewand. Sie kam zum Haus der Vestalinnen, sah ihre Gefährtinnen am Altar stehen und trat ruhig
auf sie zu - da wichen die Mädchen vor ihr zurück wie von einem Dämon und starrten sie mit aufgerissenen Augen
an. Eine wandte sich und lief davon, den Priester zu holen. Als er kam und sah, was geschehen war, hob er die Hände
hoch und rief: „Vesta, Göttin, verzeih den Frevel! Räche ihn nicht an uns! Vernichte die Frevlerin, die das Gelübde
gebrochen hat!” Dann wandte er sich zu Rhea Silvia: „Hätte dich doch der Blitz erschlagen, hätten dich doch die Wölfe
zerrissen, wie wir es geglaubt haben! Das wäre dir und uns besser gewesen als diese Schmach! Und du wagst es, in
den Tempel der Göttin zu treten nach so langer Zeit? Hier an ihrem Altar wagst du zu erscheinen, mit dem Kind, das
du gebären wirst?”
Er riss Rhea Silvia aus dem Heiligtum, befahl, sie sofort zu König Amulius zu führen, und reinigte mit Opferfeuer und
langen Gebeten den Tempel von der Gegenwart der Frevlerin. König Amulius schäumte vor Zorn - aber im tiefsten
Herzen hockte ihm blasse Angst. Denn Rhea Silvia berichtete ruhig, dass sie die Gemahlin des Gottes Mars geworden
sei und dass sie seine Söhne zur Welt bringen würde. Da wagte es der König nicht, sie und damit auch die Götter-
kinder töten zu lassen, sondern er ließ sie in ein abgelegenes Haus bringen, wo sie unter scharfer Bewachung leben
sollte, bis die Kinder geboren waren. Rhea Silvia ließ alles ruhig mit sich geschehen, saß gern an der Tür, blickte zum
Berg hinüber und wartete gelassen. Es währte nicht lange, bis sie Zwillingen das Leben schenkte. Aber nun war die
Frist abgelaufen, die man ihr gewährt hatte: Jetzt musste sie sterben. Sie küsste die Kinder und sah sie liebevoll an
dann brachte man sie auf ein Boot, der Priester sprach seinen Fluch über die frevlerische Vestalin und ein Stoß warf
sie vom Schiff in die Wellen. Da rauschte das Wasser hoch auf, ein Arm fuhr empor und riss Rhea Silvia in die Tiefe
und schaudernd sprach der Priester: „Der Tiber hat sie geholt. Der Tibergott hat sie zu sich genommen.”
Währenddessen lagen die Zwillinge in ihrem Korb. Rhea Silvias alte Amme pflegte sie und weinte dabei tausend
Tränen um das Schicksal der Mutter. Aber die Kinder durften nicht in der treuen Obhut bleiben, Amulius ließ sie ho-
len. Er betrachtete sie kurz und dachte: „Wenn ihr also eines Gottes Söhne seid, dann wird er euch retten. Hat aber
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Schulaufgabe: Textzusammenfassung