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Schulaufgabe 1: Inhaltsangabe
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geradezu, aber er ahnte oder argwöhnte, dass irgendwo eine Fliege sitze, und konnte nur hoffen, dass sie
sich nicht zeige. Doch da hörte, da sah er sie schon. In taumeligen Kurven flog sie einher und summte
wie eine Hornisse. Der Sultan schlug die Augen auf. „So liederlich”, sprach er, „versiehst du dein Amt! Wie
soll ich nachdenken, wenn das Zimmer voller Fliegen ist?” „Verzeiht, Herr”, antwortete Pontus. „Es ist nur
eine einzige Fliege, und ich werde sie sofort erlegen.”
Der Sultan blickte nach einem Tisch aus Jaspis, auf dem vielerlei Kostbarkeiten standen. „Wende die gol-
dene Sanduhr um. So lang der Sand rieselt, hast du Zeit, die Fliege zu töten. Gelingt es dir nicht, so stirbst
du.” Es war eine kurze Frist, denn das goldene Ding diente als Zeitmaß für die Ansprachen, die der Sultan
an seine Minister richtete; in vier Minuten lief der Sand durchs Glas. Mit zitternder Hand kehrte Pontus die
Sanduhr um und begann eine Jagd, die keinen guten Ausgang versprach. In der Grünen Kammer standen
auf sieben langen Tischen unzählige Kunstgegenstände, an den Wänden hingen Ampeln, Waffen und ge-
schnitzte Figuren: lauter Verstecke für die Fliegen, sichere Verstecke, weil Pontus nichts beschädigen durf-
te. Die Fliege stieß ans Fenster, zweimal, dreimal, und Pontus schlich hinzu. Als sie erneut gegen die Schei-
be fuhr, schlug er nach ihr; doch er verfehlte sie. Mit empörtem Gesumm stürzte und wirbelte die Fliege
umher, sie führte sich auf wie eine Besessene. Obwohl ein winziges Wesen nur und des Denkens nicht fähig,
spürte sie genau, dass man ihr ans Leben wollte. Zudem war es die Stunde, in der alle Fliegen der Welt,
auch wenn sie sich nicht bedroht fühlen, unsinnige Tänze aufführen - die Stunde vor Sonnenuntergang.
Die Fliege in der Luft zu treffen, schien unmöglich. Blitzschnell schoss sie dahin und änderte in einem fort
die Richtung. Pontus behielt sie im Auge, er betete im stillen, sie möge sich endlich niedersetzen. Es kam
ihm jetzt nicht mehr darauf an, ob er mit seiner Patsche etwas Wertvolles beschädigte: wenn er nur das
leidige Insekt dabei erschlug. Da setzte sich die Fliege nieder, und es war, als vermöge sie doch zu denken,
denn nunmehr befand sie sich jenseits aller Gefahr. Sie saß auf der rechten Schulter des Sultans. Pontus
blickte auf die Sanduhr und sah, dass sie zur Hälfte abgelaufen war. Was sollte er bloß tun? Es ging nicht
an, den Sultan von Tubodin mit der Fliegenklappe zu treffen, und wer es dennoch unternahm, musste mit
einem qualvollen Foltertod rechnen. Da war das flinke Schwert des Henkers noch das kleinere Übel.
Der Sultan lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa, er tat, als sonne oder träume er vor sich hin. Er
weidete sich jedoch an der Verzweiflung des Sklaven. Er horchte auf dessen Schritte und suchte zu er-
raten, wie es um die Fliegenjagd stand. Als er Pontus nicht mehr gehen, die Fliege nicht mehr summen
hörte, wurde er unmutig. Am Ende gelang es dem Tölpel, sich im allerletzten Augenblick zu retten! Der
Sultan konnte nicht wissen, dass die Fliege auf seiner eigenen Schulter saß, dass sie seinen hohen Schutz
genoss.
Pontus stand reglos, er hatte keine Hoffnung mehr. Ohne hinzuschauen, sah er, wie die Sanduhr drüben
ihm eilig das Urteil ausfertigte. Vor seinen Augen wuchsen Häuser empor, Rathäuser und Wohnhäuser,
Handelshöfe und Getreidespeicher, eine ganze Stadt, die er hätte bauen wollen und die nun ungebaut
blieb, einer Fliege wegen. Indem er dies dachte, hob die Fliege sich von des Sultans rechter Schulter und
kreiste in der Luft. Gleich darauf fuhr sie nieder, dicht an Pontus vorbei. Sie streifte die Fliegenpatsche,
flog das Sofa an, lief darüber hin, stieg erneut auf und setzte sich schließlich auf des Sultans rechtes Knie.
Dort verhielt sie.
Ein wilder Zorn befiel Pontus. „Wenn ich ohnedies sterben muss”, dachte er, „soll auch der Sultan sterben.
Er ist nicht allzu kräftig, es wird leicht sein, ihn zu erwürgen, und hinterher werde ich mich aufhängen.”
Aber schon kam ihm ein neuer Gedanke: „Meine Tat wird sicherlich nicht gleich entdeckt. Ich fliehe - viel-
leicht habe ich Glück nach so viel Unglück.” Er trat leise auf den Sultan zu und streckte seine Hände aus.
Sie zitterten nicht, wie vorhin, als er die Sanduhr umgewendet hatte, sie waren ganz ruhig. Jetzt kam es
darauf an, den Hals des Sultans rasch und fest zu umklammern, damit ihm kein Schrei mehr entfuhr. In
diesem Augenblick verließ die Fliege ihren Sitz, zog einen Halbkreis und ließ sich auf der Stirn des Sultans
nieder. Der Sultan schlug nach ihr, die Fliege fiel auf das Sofa herab.
Im Zuschlagen öffnete der Sultan die Augen. Er sah die Hände des Sklaven dicht bei seinem Hals und er-
kannte, was jener mit ihm vorhatte. „Du willst mich töten?”, fragte er. Pontus nickte. „Ich wollte es, Herr,
weil ich um einer Fliege willen sterben sollte.” Als dem Sultan aufging, wie nahe ihm der Tod gewesen,
erschrak er. Sein Herz pochte, er wurde bleich. „Einer Fliege wegen”, sann er und konnte es gar nicht
fassen, „einer kleinen Fliege wegen wäre ich ums Haar ermordet worden.”