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Schulaufgabe 1: Inhaltsangabe
Er brauchte ein Weilchen, bis er seine Stimme wiederfand. Dann sprach er: „Dass du mich töten wolltest,
lassen wir beiseite. Fest steht, dass nicht klar entschieden worden ist, ob du dein Leben verwirkt hast oder
nicht, denn als ich die Fliege erschlug, war die Frist noch nicht abgelaufen. Oder irre ich mich?”
Ich weiß es nicht, Herr”, erwiderte Pontus. „Ich habe zuletzt den Anblick der Sanduhr gemieden.”
Wir wollen”, fuhr der Sultan fort, „den Fall zu Ende bringen. Du wendest jetzt noch einmal die Sanduhr;
dann rennst du, so schnell du kannst und so weit du kommst, um dein Leben. Sobald die Zeit um ist,
schicke ich meine Aufseher und die Jäger mit den Bluthunden hinter dir her. Fassen sie dich, gehörst du
dem Henker.”
Pontus tat, wie ihm befohlen war. Er kehrte die Sanduhr um, stürzte aus der Grünen Kammer, lief die
Treppen hinab, durcheilte die Höfe, die Tore und erreichte im Nu die engen Gassen der Stadt. Alle, an
denen er vorüberschoss, hielten ihn für des Sultans schnellsten Kurier.
In der Grünen Kammer lief die Sanduhr aus. Der Sultan griff nach einer Glocke, um die Aufseher herbeizu-
läuten; da sah er etwas, das er nicht glauben mochte. Die Fliege auf dem Sofa, die er tot gewähnt, hatte
sich erholt, sie kroch umher. Als sie sich in die Luft schwang und auf ihn zuflog, duckte er sich wie unter
einer Gefahr. „Ein Zeichen!”, dachte er furchtsam. „Eine Warnung! Ich soll nicht läuten.”
So kam es, dass die Jagd auf den Sklaven Pontus unterblieb, dass er seine Heimat erreichte und wieder
ein Baumeister wurde.
Kurt Kusenberg
Ehrlich währt am längsten
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Es war an einem warmen Sommerabend des Jahres 1506. Vom Kirchturm eines kleinen Dorfes unweit der
Messestadt Frankfurt am Main hörte man das Abendläuten. Leichtes Gewölk trieb am Himmel, und die
Sonne warf die langen Schatten der Apfelbäume auf die kahl gefressenen Viehweiden, die an die rohen
Flechtzäune und Dornenhecken des Dorfes grenzten. Die Bauern hatten sie errichtet, um im Winter Wölfe
und Füchse von ihren Hütten und Ställen abzuhalten. Ferkel quiekten schrill hinter den Zäunen und Gän-
se schnatterten, als sie in ihre Ställe aus Lehm und Flechtwerk getrieben wurden. Erschöpft vom langen
Tagewerk schlurfte eine Schar Bauern, Sensen, Hauen und Forken auf den gebeugten Schultern tragend,
hinter einem Ochsengespann ins Dorf.
Da ritt ein wohlgekleideter Herr an ihnen vorüber, sicher ein reicher Kaufmann. Die Bauern hoben die
müden Köpfe und sahen ihm nach. An seiner vornehmen Kleidung, dem pelzverbrämten Rock und den
ledernen Schaftstiefeln merkten sie, dass seine Geschäfte gut gingen. Sein kräftiges Ross, obwohl es
staubbedeckt war und nur langsam im Schritt ging, war eine Augenweide; Zaumzeug und Sattel vom
besten Leder, und die Satteldecke war kostbar bestickt.
Nur die Satteltaschen, eine ältere orientalische Knüpfarbeit, machten einen mürben Eindruck. Sie waren
vollgestopft, sodass man ihre Löcher unter den abgeschabten Stellen deutlich sah.
Der Reiter war auf dem Wege zur Frankfurter Messe. Die blinden Bettler am Kirchplatz des Dorfes scheuch-
te er mit harten Worten weg und drängte sein Pferd an einer Gruppe von Handwerkern vorbei, die vor
dem Rathaus standen. Als sie hinter ihm herschimpften, gab er seinem Pferd die Sporen, obwohl es von
dem langen Ritt erschöpft war, und ritt rascher aus dem Dorf hinaus gen Frankfurt, das in den letzten
Sonnenstrahlen vor ihm lag. Die Hufe des Pferdes schlugen hart auf die Pflasterstraße.
Bald erreichte er sein Wirtshaus in der Stadt. Das Ausschirren und Tränken des Pferdes befahl er den Haus-
knechten, aber an die Satteltaschen ließ er keinen heran. Die nahm er selbst ab und wollte sie gerade zu
seiner Kammer tragen, als er heftig erschrak; sie waren leichter als vorher. Hastig griff er hinein, doch seine
Hand fuhr heftig zurück. Sein lederner Geldbeutel mit 800 Gulden war verschwunden. Wieder und wieder
suchte er danach, aber es blieb dabei. Er musste ihn unterwegs beim Galoppieren verloren haben. Vielleicht
im letzten Dorfe mit den blinden Bettlern, die er so barsch abgewiesen hatte. Zurückreiten konnte er nicht,
denn er fürchtete Räuber und Wegelagerer vor den Stadttoren. So verbrachte er eine unruhige Nacht im