Stege klein - page 4

und Seen“ vertreten wird. Zu den Seen gehören auch die
Uferstreifen, was bedeutet, dass alle Stege auf Staats-
grund liegen und genehmigt sein müssen. Im großen
Ganzen werden keine neuen Stege mehr zugelassen, aber
für die vorhandenen besteht der sog. Bestandsschutz.
Es ist genau geregelt, in welchem Umfang und in wel-
chen Zeitabständen die Stege repariert werden dürfen.
Sollte ein Steg ganz zerstört sein — etwa durch Eisgang
oder Vernachlässigung —, dann darf kein neuer errichtet
werden. Daher gilt es, die vorhandenen Stege bei Eis zu
schützen und ihren allgemeinen Zustand immer im Auge
zu behalten.
Betritt man einen Steg geruhsam, also nicht zielstrebig
oder um schnell noch den Dampfer zu erreichen, so hat
das immer etwas Erhebendes. Man entfernt sich vom fes-
ten Ufer, schwebt über den Wassern, steht sozusagen im
Wasser, wird aber nicht nass. Waagrecht geht es über die
quer oder längs verlegten Bretter, die Pfosten unter ei-
nem werden immer länger. Bei manchen Stegen liegt das
Wasser tief unter den Brettern, andere scheinen fast zu
schwimmen. Es gibt Stege mit und ohne Geländer, sol-
che, bei denen die Pfosten über das Laufniveau reichen,
und solche, bei denen die Pfosten unterhalb der Bretter
enden. Irgendwann aber ist jeder Steg zu Ende, auch der
längste! Dann nur noch Wasser. Wenn man allein ist und
Zeit hat, dann ist man besonders allein und hat beson-
ders viel Zeit.
Aber natürlich ist man keineswegs immer allein! Unter
den Jugendlichen gab es früher eine Mutprobe: Mit dem
Moped möglichst schnell über einen langen Clubsteg
nach vorne fahren und so spät wie möglich scharf ab-
bremsen. Wer am nächsten beim Stegrand zum Stehen
kommt, hat gewonnen. Im Sommer das Liegen auf dem
Badesteg, der Geruch von trockenem Holz und Sonnenöl,
die schmerzhaften Spreißel in der Fußsohle. Die unter-
schwellige Erotik der jugendlichen Körper. Das Sprin-
gen vom Steg, elegant mit dem Kopf voraus („Köpper“,
„Hecht“), schlichter mit den Füßen voraus („Kerze“)
oder mit dem größten Spritzeffekt („Arschbombe“), das
Kreischen der Mädchen, das Imponiergehabe der Buben
– viele Erinnerungen an unbeschwerte und endlos schei-
nende Sommertage.
Aber auch einsame Stunden kann man auf einem Steg
verbringen, entfernt vom Trubel in den Wirtshäusern
oder auf den Straßen. Ganz allein im Gespräch mit dem
See, dessen Aussehen sich ständig verändert, nie lang-
weilig wird. Das Geräusch der Wellen, die an die Pfosten
schlagen, das Rauschen des Schilfs, das Kreischen der
Möwen. Der weite Blick auf das andere Ufer, vielleicht
die Alpenkette im Hintergrund.
Man kann es auch philosophisch angehen: Das Men-
schenwerk überwindet die Natur; das Feste besiegt das
Flüssige; stimmt beides nur, solange die Natur „brav“
ist. Bei Sturm und Wellen, bei Eis und Hochwasser hat
schon mancher Steg Schaden genommen. Der Natur war
das egal, sie kennt keine Katastrophen.
Oder optisch: ein gerader Streifen, eine Linie in die
amorphe Wasserfläche. Wenn man an den Stegen ent-
langschaut, laufen die Linien zusammen; optische Täu-
schung, Perspektive. In der Wirklichkeit vergisst man das
oft, weil das Hirn gelernt hat, mit solchen Täuschungen
umzugehen. Aber viele der in diesem schönen Buch ver-
sammelten Fotografien betonen gerade das Lineare, das
Graphische an den Stegen, den Gegensatz zwischen Hart
und Weich, zwischen Linien und Flächen. Die Wasserflä-
che wird zur Folie des vom Menschen Geschaffenen.
Viel Anregung und Spaß beim Blättern!
Thomas Raff, Kulturhistoriker
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