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Zeitsprung - Januar 1929
Bitterkalte Luft hatte in jenen Tagen ganz Deutschland in eisigemGriff. Auf Rhein, Donau
und Inn schwammen dicke Eisschollen, die sichmit lautemÄchzen täglichmehr undmehr
zu einer geschlossenen, grauweißen, zähen Masse vereinten. Wie die Köpfe neugieriger
Robben lugte Treibholz aus dem träge treibenden Brei. Erstarrt lag alles Land im fahlen
Licht einer blassen Wintersonne, die roten Nasen der geplagten Bürger im Reich trieften
und schmerzten. Glücklicherweise hatte man in Nürnberg gerade das Papiertaschentuch
erfunden, welches unter dem Namen „Tempo” alsbald zum Synonym für Schnäuztücherl
wurde und die bakterienverseuchten Rotzlappen, auch Sacktuch genannt, ablösen soll-
te. So benutzten wohl an dem denkwürdigen Tag nicht wenige der in langen Schlangen
vor den Bücherläden wartenden Leseratten die flauschigen Tüchlein für ihre roten Na-
sen. Seit Stunden harrten sie dort aufgeregt darauf, ein Exemplar des neuen Romans von
Erich Maria Remarque, „Im Westen nichts Neues”, ergattern zu können, welcher Ende
des Monats erschienen war. Aufgrund der vielen Vorbestellungen war die erste Auflage
schnell vergriffen gewesen, schließlich wollte nicht jeder nur das in München publizierte
Kampfblatt und Parteiorgan der NSDAP, den „Völkischen Beobachter”, lesen.
Noch dürstete die Seele des gebildeten Volkes förmlich nach guter Literatur, zeigte der
größte Teil der Bevölkerung derzeit wenig Begeisterung am nationalsozialistischen
Gedankengut. Wer konnte schon ahnen, dass, neben anderen Büchern, auch Remarques
pazifistische Romane 1933 von den Nationalsozialisten auf den Scheiterhaufen geworfen
werden würden.
Jedoch nicht jeder hatte Zeit und Muße, sich frierend vor einem Bücherladen die
Füße in den Bauch zu stehen. So stand in jenen Tagen im Amtsgericht Miesbach, an ei-
nem ebenso ungemütlichen Vormittag, Gewichtigeres auf dem Programm, nämlich eine
Haftprüfung. Bevor er zur Tat schritt, leerte Amtsrichter Heinrich Berger kurz nach neun
Uhr in seiner warmen Amtsstube genüsslich die Kaffeetasse. Dann zog er eine schwarze
Robe über den grauen Trachtenanzug und ging, einen roten Aktendeckel in der Rechten,
gemächlich in das kleine Verhandlungszimmer, wo gerade ein Justizwachtmeister einen
Mann in blauem Drillichzeug, die Hände in Ketten, in den Raum führte. Schwerfällig,
ängstlich und verunsichert, aber dennoch aufrechten, stolzen Ganges, folgte dieser der
barschen Anweisung, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch des Richters Platz zu nehmen.
So Mitte dreißig mochte er sein, gut über einen Meter achtzig groß und von kräftiger
Gestalt. Eine dichte, braune, lockige Mähne umrahmte den Kopf und imwettergegerbten
Gesicht war deutlich zu sehen, dass er sich seit Tagen nicht hatte rasieren können. Über-
haupt schien er mit der ganzen Angelegenheit nicht einverstanden zu sein, schaute er
doch nun mürrisch auf den Richter und rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Wie
üblich wachte im Hintergrund an der Tür ein Gendarm mit Gewehr über der Schulter.
Leeren Blickes schaute der Gefesselte zu, wie der Richter in der dünnen, vor ihm liegen-
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