holztod - page 14

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05.01.1919 - Unheil liegt in der Luft
Genau an dem Fleckchen Bayerns, dort wo es sich der Schliersee in unendlich langen
Zeiträumen bequem gemacht hatte, versuchte am Tag vor „Heilig Drei König“, in den
frühen Morgenstunden, das gleißende Licht der aufsteigenden Sonne mit all ihrer Kraft,
Dunst und Nebel der Nacht zu vertreiben. Ein paar Monate erst war der fürchterliche
Krieg vorbei, seine schmerzlichen Wunden aber noch lange nicht verheilt. Gleichwohl
begann der Tag wie jeder andere in dem borstigen Winter. Neuschnee war nur an weni-
gen Tagen seit Jahresbeginn gefallen, und so überdeckte der weiße Puder verschämt die
aus Schornsteinen und Hauskaminen entflohenen Rußflocken, welche sich auf ihm, wie
Tausende kleine schwarze Käfer, niedergelassen hatten. Aus manch Fenstern schimmerte
bereits ein dünner Lichtstrahl nach draußen auf dreckige graue Schneehaufen, Wege,
Gassen und Straßen, derweil sich ohne Rücksicht neuerlich dunkle Rauchschwaden ge-
radewegs in den blassblauen Morgenhimmel bohrten.
„Wir sind noch da, wir lassen uns doch von dir nicht unterkriegen! Wir halten durch!”,
war die Botschaft der Bewohner an den eisigen Gesellen. So, als wollten sie beweisen,
dass sie trotz seiner kalten Macht aus dem warmen Bett gestiegen waren und sich nun für
ihr Tagwerk richteten. Die noch von der Nacht kalte, klamme Kleidung wurde am lang-
sam auflodernden Herdfeuer gewärmt und rasch ein Stück Brot in einen Becher heiße
Milch getunkt. Manch einer rieb sich noch verschlafen die Augen, ehe er seine eiskalten
Füße in die noch kälteren und steifen Stiefel zwängte. Bald verlangten auch die Tiere in
den Ställen mit lautem Gebrüll nach einem kräftigen Frühstück. In den steinernen Ge-
wölben oder aus grobem Holz gebauten Ställen entstand wahrlich tierische Unruhe. Das
ungeduldige Muhen von Kühen, Ochsen und Kälbern hallte von den Höfen hinaus in die
morgendliche Stille, denn die Kühe wollten endlich ihre nahrhafte Milch in Kübel und
Kannen loswerden.
So hatte allenthalben ein allgemeines Erwachen Mensch und Tier zugleich ergriffen.
Noch während die Sonne versuchte, mit aller Macht ihrer aufkeimenden Wärme den
Dunst und Nebel der Nacht zu vertreiben, waren die Bauern in den Stallungen längst
emsig bei der Arbeit. Doch auch die Sonne arbeitete hart, beeilte sich derweil mit viel
Geduld, Dorf und Landschaft in eine wundersame, mystische Atmosphäre einzuhüllen,
so wie sie Maler gerne sahen und auf Leinwänden verewigten. Alsbald verschmolzen
Häuser und Kirchturm, tief verschneite Gipfel, Bergflanken und Bäume schemenhaft mit
dem nahenden Tag.
So strahlend und geheimnisvoll er auch begann, dieser Tag, er sollte den Menschen
am und um den See nicht nur deswegen lange in Erinnerung bleiben. Nichts deutete
in diesen Stunden darauf hin, dass der Wald hoch oben zwischen den Bergen die letz-
ten Stunden in den linden Strahlen verbringen durfte, ein unbekannter Fremder zwi-
schen Bäumen und Schneeverwehungen vergeblich um sein Leben kämpfen musste,
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