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dass unerklärliche Vorgänge in den kommenden Tagen auch die Menschen in den Dör-
fern unten am See heimsuchen würden.
Während sich der Dunst friedfertig in gewohnter Stille auflöste, bahnte sich der Föhn,
dieses der Landschaft eigene Phänomen, mit Hilfe seines seit ewigen Zeiten strahlenden
Herrn als milder Hauch den Weg über Berg und Tal. Wärme, Hoffnung, Erleichterung
und Abstand zu den harten Wintertagen kehrten, unerwartet für die Menschen unten in
den Dörfern, aber auch bei den wenigen Holzknechten, die noch oben in ihren Hütten
ausharrten, ein. Keiner konnte das drohende Unheil ahnen, das sich in Kürze über diesem
wunderbaren Fleckchen Erde, der großartigen Natur, zusammenballen sollte. Hatten sie
sich nicht eben erst von einem unmenschlichen Krieg erholt, waren froh, einigermaßen
glimpflich davongekommen zu sein? Bald jedoch werden sie klagend fragen: „Hat denn
der Krieg nicht schon genug Unheil und Leid über unsere Heimat gebracht? Lieb gewon-
nene Menschen, Ehemänner, Freunde und Nachbarn aus unserer Mitte gerissen? Unser
auch so schon karges Leben in diesem Teil der Heimat noch mehr erschwert?”
Aber ohne Gnade entschied nun der Leibhaftige, der grausame Tod, stur nach seinem
Willen. Lauerte geduldig, hämisch grinsend hinter Bäumen, Felswänden und Berggip-
feln. Suchte hinter den Wänden der Häuser, und wo es ihm in den Sinn kam, seine Beute,
wollte den Menschen zeigen, wie machtlos sie waren. Sie, seine Opfer, von denen er viel-
leicht gar Namen, Gesichter sowie den Lebenslauf kannte. Inszenierte, wie ein Regisseur
ein Theaterstück, seine große Stunde auf der Bühne des Lebens, suchte wahllos Men-
schen, die er in seine dunklen Sphären entführen konnte, dorthin, von wo es kein Zurück
mehr gab. Er würde sich nehmen, was der Schöpfer ihnen gegeben, würde handeln, wie
es ihm seine mörderische Berufung vorgab. Wusste gar schon, dass die nächsten Wochen
und Monate ihm reichlich Gelegenheit dazu bieten würden. Dass erfahrene, zugleich
ob der schwierigen Aufgabe aber auch verwegene Ingenieure ihn mit einem wagemuti-
gen Projekt dabei unterstützen würden, nämlich einer Bockerlbahn durch ein wahrlich
schwieriges Gelände von Neuhaus hoch zum Spitzingsee und weiter ins Tal der Valepp.
Dass ihm bei dem Knochenjob mancher mutige Mann sein Leben überlassen müsste,
er sich zufrieden die schmutzigen Hände reiben könnte. Eines aber hatte er übersehen:
Das Wetter, das Unheil brachte die Menschen zusammen, sorgte dafür, dass sie sich dem
Unhold entgegenstemmten. Wut und Trauer machten sie unberechenbar.
So war in Schliersee schon nach dem Erwachen der krasse Wetterumschwung zu spü-
ren, denn über Nacht war die eisige Kälte einer milderen Luft gewichen. Taute auf den
Dächern der Schnee, plätscherte Wasser leise von Bäumen auf Wege, Straßen, Gärten
und Wiesen. Silbern glitzernde Eiszapfen an den Dachtraufen führten, Wasserhähnen
gleich, das kalte Nass in dünnen Rinnsalen zurück zur Erde. Dorthin, von wo es einst
heiß, fauchend und dampfend aus unzähligen Vulkanen entwichen war, menschlichen
Rassen, Flora und Fauna rund um den Erdball Atmosphäre, Raum, Luft zum Atmen,
Energie, Nahrung, Leben gegeben hatte.
Wer sich vor die Haustür begab, spürte sogleich den weichen Schnee unter seinen Soh-
len, fühlte den warmen Windhauch, der mit einer blassen, verschämten Sonne nicht
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