holztod - page 10

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den Akte blätterte. Unter leisem Rasseln der Ketten bewegte er sich auf dem Stuhl hin
und her, fuhr nervös mit der Zunge über seine trockenen Lippen und schwieg.
Amtsrichter Berger war ein erfahrener, besonnener Bayer Ende fünfzig, leicht überge-
wichtig zwar, jedoch nicht träge. Zwei wache, listige Augen hinter den Brillengläsern
unter buschigen Brauen wurden umrahmt von feinen Fältchen auf einer ansonsten ge-
sunden Gesichtshaut. Die schwarze Robe verdeckte seinen maßgeschneiderten Trach-
tenanzug, ein weißes Leinenhemd und eine dunkelgrüne Krawatte. Jetzt las er, mit sich
leicht bewegenden Lippen, still für sich in den wenigen Blättern, neigte überlegend den
Kopf. Einen Lidschlag lang schloss er die Augen, schaute danach dem Mann fragend ins
Gesicht: „Soso, a Mörder soll er sei! Bevor ich in der Angelegenheit weiter entscheide,
ham S´ des Recht sich zu äußern, aber erst amal zu Ihrem Namen ...!”
Ob einer schlaflosen Nacht erschöpft und müde, zudem in seinem Innersten aufgewühlt
und tieftraurig, antwortete der „Mörder“ nach kurzer Besinnung und einem schweren
Schnaufer mit stockender Stimme: „Obertaler ..., ja, ... Obertaler ... Christian ..., geborn ...
am zwölft´ September ... achtzehn...hundertzwei...a...neunzig im Hochpustertal in Tirol,
drobn auf ... am ... kloana Bauernhof ... hoch über Sexten.“ Anschließend ließ er den
Kopf sinken und starrte schweigend auf seine gefesselten Hände.
„Komma zur Sach. Warum sind S´ denn damals im Februar 1919 ausgerechnet nach
Bayern, was wolltn S´ denn da?”, fragte Amtsrichter Berger bedächtig. Wieder hob der
Gefesselte schwerfällig den Kopf, suchte offenbar nach der richtigen Antwort.
„I hab bei dem ... scheiß Krieg mitmachn müssn, war lieber dahoam bliebn, aber danach
hat mi ja koaner g´fragt! A Hoamat ..., a ... Heimat hab i nimmer g´habt, wollt aber a mei
Lebn net glei wegschmeißn, des i im Kriag, net so wie vui meiner Kameraden ... b´haltn
hab. Oiso bin i nach Bayern, mir Arbeit suachn, wollt a neu´s Lebn anfanga!” Wieder
starrte er auf seine gefesselten Hände, brachte kein Wort mehr über die Lippen.
„Warum ham S´ denn den Mann am Schliersee umbracht?”, fragte Richter Berger nun
doch etwas ungehalten. Sogleich sprang der Gefesselte auf, wobei der Stuhl nach hinten
umfiel, was den Gendarmen rasch zu ihm eilen ließ.
„Ja, sollt i mi von dem brutaln Hund vielleicht mit´mMessa abstechn lassn?”, schleuderte
er dem Amtsrichter laut und aufgebracht entgegen. Der Gendarm schob den Stuhl zu-
recht und drückte den Gefesselten mit grober Hand drauf.
„Da gibt´s aber Zeugen, die´s anders g´sehn ham wolln!”, widersprach Richter Berger
energisch.
„Ja, mag scho sei, de lügn doch alle und haltn z´samm!”, rief der jetzt vor Wut bebende
Delinquent. „Wer von dene Nazis glabt denn scho an Fremdn, am her´glaufnen Tiroler
Soldatn! Notwehr war des, mehr net! I wollt den net umbringa, hab nur mei Lebn vertei-
digt, so wie i´s im Krieg g´lernt hab, und jetzt möcht i wieda hoam zu Frau und Kind!”
Zweifelnd schaute ihm Richter Berger ins Gesicht, neigte wie ein Huhn den Kopf zur
Seite, blätterte erneut in der Akte, murmelte vor sich hin.
„Ham S´ sonst nix zu sagn? So einfach geht des nämlich net, erst amal bleibn S´ in Haft,
dann schaun ma weiter. Abführn!” Bärbeißig ergriff der Gendarm Christian Obertaler
am Arm und wies ihn an zu folgen.
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