Naturgeschichtchen Allgäu - page 80-81

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Vor langer Zeit verbrachte eine Hirtenfamilie
den Alpsommer hier oben. Im Herbst, als die
Tage kürzer und die Nächte kühler wurden,
entschied der Vater, dass es Zeit war, wieder
ins Tal hinabzuziehen. „Schade”, seufzte die klei-
ne Rosa, denn sie hatte den ganzen vorigen Tag
einen Adler dabei beobachtet, wie er stolz seine
Kreise zog. Sie hätte schwören können, das Tier
hatte sich über ihre Aufmerksamkeit gefreut. So
gerne hätte sie dem König der Lüfte noch einmal
zugesehen. Doch sie wusste, Aufbruch bedeutete,
die Hütte aufzuräumen, die Tiere zusammenzu-
treiben, auf die jüngeren Geschwister aufzupas-
sen. Noch einmal seufzte sie und marschierte los,
die Schafherde zu suchen.
Als sie alle Tiere beieinander hatte, stellte sie
fest, ein Schaf fehlte. Also kletterte sie erneut
den Hang hinauf und hoffte, das Tier zu finden. Ein
jämmerliches Blöken wies ihr den Weg. Das Schaf
war mit seinem Vorderhuf zwischen zwei Felsen
eingeklemmt. Vorsichtig befreite Rosa das Tier. Sie
wollte sich gerade umdrehen, um zurückzulaufen, da
stolperte sie, stieß sich den Kopf am Fels und verlor
das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, war es stockdunkel um sie
herum. Sie wusste nicht, wo sie war und bekam große Angst. Plötzlich wurde es hell und Rosa sah, dass
sie warm und trocken in einem hohlen alten Baum saß. Das Licht kam von den Fackeln ihrer Familie. Ihre
Mutter erzählte Rosa später, ein Adler hätte laute Schreie ausgestoßen, nachdem die Schafe ohne Hirtin
zurückgekommen waren, und wäre so lange über der Alpe gekreist, bis die Menschen ihm zum alten Berg-
Ahorn gefolgt seien. Doch wie Rosa dort hingekommen war, das hatte nie jemand erfahren. Eine kleine
Erinnerung trug sie ihr Leben lang mit sich. Es war eine lange, braune Adlerfeder.
Wollen wir weitergehen? Ich meine
natürlich, du gehst und ich fliege. Bald
haben wir die Untere Lauch-Alpe er-
reicht. Noch einen besonders alten
Baum treffen wir auf unserem Weg.
Sieh dort, der älteste Baum hier oben ist
eine alte, knorrige Eibe, die Ur-Eibe von
Steibis
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. Sie stand dort vielleicht
schon, als Christoph Kolumbus Amerika
entdeckte und das ist über 500 Jahre her.
Vielleicht ist sie sogar schon 1.000 Jahre
alt. Schade, dass sie uns nicht erzählen
kann, was sie schon alles gesehen und er-
lebt hat.
Aber jetzt lass uns sehen, ob wir was zu
trinken kriegen. Na ja,
ich bestimmt, denn ich
brauche mir nur leckeren
Nektar aus den vielen
Blüten zu saugen.
Ur-Eibe von Steibis
. Früher tränkten Krieger ihre Pfeil-
spitzen mit dem Gift, das die Blätter und viele andere
Teile der Eibe enthalten. Aus dem harten Holz fertig-
ten sie Bögen und Armbrüste.
Während du isst und
trinkst, können wir uns
über das Ende des Alp­
sommers unterhalten.
Weißt du, was im Herbst
mit dem Vieh passiert? Natürlich weißt du
das. Viele Allgäuer und viele Gäste freuen
sich das ganze Jahr auf den Viehscheid.
Wenn Kühe und Schumpen,
manchmal auch Schafe und Zie-
gen, von den Bergen scheiden,
also Abschied nehmen, und ins Tal
getrieben werden, dann gibt es in
vielen Orten des Allgäus ein großes
Fest. Ihr Menschen feiert den
Viehscheid
. In Oberbayern wird
Viehscheid auch gefeiert. Dort
heißt er „Almabtrieb” und die Alpe
wird dort „Alm” genannt. Wenn alle Tiere während
des Sommers heil geblieben sind, darf die Kuh,
die die Herde im Herbst beim Alpabtrieb anführt,
einen Kranz tragen. Hier siehst du Hans,
den Hirten, und sein Kranzrind Senta.
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